Ein Jahr nach dem Explosionsunglück in Toulouse (2024)

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Der 11. September Frankreichs ereignete sich am 21. September. Am 21. September 2001 explodierte in Toulouse die Chemie-Fabrik AZF. Die südfranzösische Stadt Toulouse wurde zum Symbol für industrielle Risiken. Was hat sich seither verändert? Wie wird seither mit dem industriellen Risiko umgegangen?

Von Siegfried Forster |

Am 21. September wird nicht die ganze Welt, aber alle Welt in Toulouse den Atem anhalten. Vor einem Jahr explodierten in der Kunstdünger-Fabrik AZF 300 Tonnen Ammonium-Nitrat: 30 Menschen kamen ums Leben, über 3.500 wurden schwer verletzt, 25.000 Wohnungen und über 1.300 Unternehmen wurden zerstört oder beschädigt, bei 100.000 Menschen hat die Explosion Augen- und Hör-Schäden, psychische oder materielle Schäden hinterlassen. Die Sachschäden belaufen sich auf 2,5 Mrd. Euro, so Philippe Douste-Blazy, Bürgermeister von Toulouse:

Toulouse wird sich immer daran erinnern, was um 10 Uhr 17 am 21. September 2001 passierte. ... wir werden niemals diese panische Angst vergessen, ... weil niemand wußte, woher das kam. Warum 100.000 Menschen in unterschiedlicher Weise Opfer dieser Katastrophe wurden.

Nachbarschafts-Vereine und Umweltschützer hatten die mangelnden Sicherheits-Vorkehrungen seit Jahren öffentlich kritisiert. Die Direktion der AZF-Fabrik schwörte dagegen Stein und Bein, dass alle notwendigen Vorsichtsmaßnahmen getroffen worden seien. Doch Beobachter sprachen von abwesenden Kontrollen, von fehlenden Geräten zur Temperatur- und Feuchtigkeits-Messung. Jesus Perez kannte das Firmengelände seit 20 Jahren und hatte auch die Lagerhalle oft betreten:

Dieses Gebäude war vollkommen wurmstichig. Der Boden war vollkommen heruntergekommen. Die Asphaltschicht existierte so gut wie nicht mehr. Man befand sich praktisch auf einer Kiesschicht.

Ein Jahr später wird gegen insgesamt 13 AZF-Mitarbeiter ermittelt, auch dem damaligen AZF-Direktor werden Sicherheits-Mängel vorgeworfen. Ein Attentat wird als Ursache offiziell ausgeschlossen, doch die genaue Unfall-Ursache ist immer noch nicht geklärt. Noch einmal Bürgermeister Douste-Blazy:

Ich warte noch auf das Vorliegen aller richterlichen Untersuchungs-Berichte. Es scheint so zu sein, dass es sich um einen Unfall handelte. Neben den 300 Tonnen Ammonium-Nitrat gab es offensichtlich 500 Kilogramm Chlor. Wie ist dieses Chlor dort hingekommen? Warum ist es 40 Jahre lang nie zu einer Vermengung zwischen Chlor und Ammonium-Nitrat gekommen? Das habe ich als Bürgermeister dieser Stadt bis heute noch nicht richtig verstanden.

Wie stark die Fabrik-Explosion die Umwelt verschmutzte, steht inzwischen fest. Das französische Gesundheits-Institut veröffentlichte in einem Zwischenbericht die Schadstoffwerte in Boden, Wasser und Luft. Überraschung: Kurz nach der Explosion wurden in einem Umkreis von 800 Metern rund um die Unglücksstelle zwar erhöhte Chlor- und Ammonium-Werte und Stickstoff-Konzentrationen festgestellt. Die geschätzten Werte in den benachbarten Wohnhäusern liegen jedoch alle unterhalb des Grenzwertes der Weltgesundheits-Organisation (WHO).

Im ersten Moment hatte AZF-Eigentümer Total-Fina-Elf sogar an den Wiederaufbau der Anlage gedacht. Bürgerproteste haben dies schließlich verhindert. Bürgermeister Douste-Blazy will, dass Toulouse weiterhin nicht nur ein Industrie-Standort, sondern auch ein Chemie-Standort bleibt - allerdings mit deutlich veränderten Vorzeichen: ... Wir haben vor kurzem eine Unternehmens-Gründung gefeiert, die ein prima Symbol darstellt: ein Bio-Katalyse-Unternehmen mit sogenannter "Grüner Chemie”. Das heißt, wir werden chemische Produkte herstellen, ohne dass ein einziger Schadstoff in den Garonne-Fluss oder in die Luft entweichen wird. Denn ich glaube in einer solchen Märtyrer-Stadt wie Toulouse, ... sollte man an eine nachhaltige industrielle Entwicklung denken, respektvoll gegenüber der Umwelt.

AZF-Eigentümer Total-Fina-Elf bestreitet bis heute jegliche Verantwortung, kündigte allerdings an, nicht nur das Gelände der Unglücksfirma vollständig sanieren, sondern dort auch einen Biotechnologie-Park errichten zu wollen. Gleichzeitig versprach Total-Fina-Elf in Toulouse eine Solar-Zellen-Fabrik sowie ein Europäisches Institut für die Industrielle Sicherheit anzusiedeln.

Die Katastrophe von Toulouse brachte vor allem ans Tageslicht, wie stark Politiker und Bürger in Frankreich das industrielle Risiko bis zu diesem Zeitpunkt unterschätzt hatten. Daraufhin wurden in allen 20 französischen Regionen öffentliche Debatten abgehalten. Monate später musste der von der Regierung beauftragte Koordinator jedoch eingestehen, dass sein Bericht keinerlei konkrete Folgen hatte - ganz einfach deshalb, weil bis Juni diesen Jahres in Frankreich Wahlkampf herrschte. Dies soll sich nun ändern, versichert die neue Ministerin für Ökologie und nachhaltiges Wachstum, Roselyne Bachelot:

... wir sind natürlich nicht untätig geblieben. Was die Mobilisierung in bezug auf die Sicherheits-Kontrollen anbetrifft. Ich werde im Parlament ein Gesetzes-Projekt in bezug auf Vorsorge-Maßnahmen vorstellen - es betrifft industrielle Risiken und Naturkatastrophen.

Kurz vor der Katastrophe in Toulouse hatte die Europäische Union Frankreich abgemahnt, wegen der mangelnden Umsetzung der "Seveso-II-Direktive” in bezug auf industrielle Risiken. Insbesondere die Auflagen für unterirdische Gas- und Erdöl-Lager wurden von Frankreich nicht eingehalten. Die europäische Seveso-II-Direktive sieht auch vor, dass die Risiko-Standorte jedes Jahr inspiziert werden. Was Frankreich vor gewisse Probleme stellt: denn 750 Inspektoren sehen sich 64.000 Industrie-Einrichtungen gegenüber. Der Aktions-Plan der neuen Regierung wird voraussichtlich frühestens im Sommer 2003 verabschiedet werden.

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